Die Seele aller Zufälle
eine Lesung in italienischer Sprache mit Fabio Stassi (Schriftsteller und Direktor der Biblioteca Orientale, Universität Sapienza in Rom)
Mit freundlicher Unterstützung des Rotary Clubs Konstanz und des Kulturamtes der Stadt Konstanz


Wann? | Do, den 27. März 2025 um 18 Uhr |
Wo? | Alexander-von-Humboldt Gymnasium Konstanz (R346) und im Livestream |
Eintritt | frei |
Info: | Lesung in italienischer Sprache |
Begrüßung, Vorstellung der Reihe „Europa erlesen“, des Autors und der KollegInnen (Procopan)
Einführung in den Roman (Sophia):
Das Buch „Die Seelen aller Zufälle“ von Fabio Stassi handelt von einem Bibliothektherapeut, Vince Corso, der in seiner Dachgeschosswohnung in Rom seine Patienten empfängt, um sie mithilfe der Literatur, von einem Leiden zu heilen beziehungsweise um ein seelisches Problem zu hindern.
Eines Tages taucht Giovanna Baldini in seinem Büro auf, um ihn um einen Gefallen zu bitten. Ihr Bruder, der an Alzheimer erkrankte ist, wiederholt immer wieder die gleichen Sätze welche, sie vermutet, in einem Buch zu finden. Vince Corso glaubt aber kaum, dass sie dieses Buch zum Wohlwollen ihres Bruders finden möchte, sondern eher, dass sich Baldini darin den Schlüssel zu einem millionenschweren Erbe vermutet, welches sie unbedingt finden möchte.
Corso begibt sich auf die Suche nach Spuren, bleibt vorerst allerdings erfolglos. Erst als er in der riesigen Bibliothek des Erkrankten sucht, gewinnt er neue Erkenntnisse und macht überraschende Entdeckungen.
In einer Mischung aus Krimi und einem philosophischen Roman werden wichtige Themen wie Identität, Erinnerung und den Einfluss des Zufalls auf das menschliche Leben angesprochen. Der Roman fordert den Leser dazu auf, sich mit der Rolle des Zufalls in seinem Leben zu befassen und auch die tiefere Bedeutung zu hinterfragen.
Erste Frage Procopan – Welt der Fiktion /Welt der Literatur:
Vince Corso ist ein äußerst fragiler Mensch, der mehr in der Welt der Literatur lebt, als in der wirklichen. Er liest unentwegt und hat sich zur Gewohnheit gemacht, Listen mit sehr unterschiedlichen Motiven in der gelesenen Literatur anzulegen: So legt er z.B. eine Liste mit den Sanatorien oder Krankenhäusern an, die in den gelesenen Romanen vorkommen, was ihm die Zuversicht verleiht, im Falle einer Erkrankung die Adresse der besten Heilanstalt für diese Erkrankung zu kennen. Inzwischen ist er mehr aus Not Bibliotherapeut geworden, seitdem er keine Vertretungen mehr als Lehrer für italienische Literatur an Gymnasien in Rom mehr erhält. Er wohnt einer Waschküche für eine geringe Miete in Rom, wurde vor einem halben Jahr von seiner Lebenspartnerin Serena verlassen und leidet an melancholischen Stimmungen. Er schreibt regelmäßig Postkarten, die er seinem unbekannten Vater an die Adresse eines Hotels in Nizza schickt, da dieser für kurze Zeit in diesem Hotel einquartiert war. Außerdem träumt er regelmäßig davon, er sei auf einer Reise mit dem Zug. Dabei besteht seine größte Angst darin, keine Fahrkarte zu haben und dabei erwischt zu werden, oder seine Fahrkarte nicht finden zu können. Zudem träumt er davon, von einem gesichtslosten oder maskierten Schaffner verfolgt zu werden.
Der Protagonist des Romans ist also ein Literat, der in der Welt der Bücher lebt und darum bemüht ist, Menschen mithilfe der Literatur zu heilen. Er selber versucht, sich in der Welt einen Anker mithilfe der Literatur zu verschaffen und wird in eine außergewöhnliche Geschichte verwickelt, in der eine noch außergewöhnlichere Bibliothek eine Rolle spielt. Den Fall, den er als Detektiv lösen muss, führt ihn nicht in die Welt der Wirklichkeit, sondern in die Welt einer privaten Bibliothek, denn sein Auftrag besteht darin, in dieser Bibliothek ein Buch zu finden, über das nur sehr wenige Details bekannt sind.
Je mehr man in Ihrem Roman taucht hat man den Eindruck, dass die Wirklichkeit ein blasser Schatten der Fiktion ist.
In welchem Spannungsfeld steht die Welt der Fiktion, der Literatur zur Welt der Wirklichkeit in Ihrem Roman?
Antwort F. Stassi:
Herzlichen Dank, dass Sie heute alle gekommen sind. Entschuldigen Sie, dass ich nur Italienisch spreche, aber trotzdem: Herzlich willkommen! Ich werde versuchen, die Beziehung zwischen Fiktion und Realität darzustellen. Ich habe schon als Kind Bücher geliebt, da ich ein Kind war, das sehr spät mit Sprechen begann und auch wenig sprach. Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich das Gefühl, dass Bücher lebendig sind. Eines Tages las ich das Kinderbuch „Moby Dick“ und fragte mich, ob das Holzbein von Kapitän Ahab wirklich aus Holz ist, da es in Wirklichkeit aus dem Knorpel eines Fisches besteht. In diesem Moment klopfte es an der Tür, und ich öffnete sie. Vor mir stand ein Mann, der gefühlt 200 Jahre alt war und ein Holzbein hatte. Ich war mir sicher, er wäre eine imaginäre Figur, die ich durch das Lesen erschaffen hatte. Für mich war er Kapitän Ahab. In dem Moment kam meine Großmutter und erklärte mir, dass der Mann mein Onkel sei. Also war ich der Neffe von Kapitän Ahab. Er war ein Onkel meiner Großmutter, der nach 30 Jahren aus Amerika zurückgekehrt war. Der Übergang zwischen den Büchern und dem Horizont ist sehr fein. Meine Überlegung war immer, dass Figuren aus Romanen auch auf unsere Seite, die Realität, kommen können. Einmal schrieb ich eine Geschichte über einen Pfarrer, der einen sehr langen, orthodoxen Bart hatte. Als ich später mit der Straßenbahn nach Hause fuhr, war alles leer, und die einzige Person, die zu sehen war, war dieser Mann. Man sollte sehr darauf achten, was man sich imaginär vorstellt. Man braucht die Imagination, um sich zu erinnern. Wenn wir uns erinnern, stellen wir uns die Personen, die Stimmen, die Zeit, die vergangen ist, vor. Wenn man Romane schreibt, ist es eine Art, Erinnerungen hervorzurufen und seine Erlebnisse wiederzugeben. Aber ich glaube, dass man uns diese Imagination wegnehmen möchte. Man will sie deplatzieren, unter anderem durch Werbung. Das ist sicher nicht das Beste aller Welten. Die Imagination ist fundamental, um die Realität als solche wahrzunehmen. Von Angesicht zu Angesicht. Wir haben zu viel Zeit in der Irrealität verbracht, bis der Coronavirus kam. Wir sind aufgewacht. Und jetzt ist es schwierig, die Welt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Deshalb ist es elementar wichtig, zu schreiben, aber vor allem zu lesen, um unsere Imagination zu erziehen.
Erste Frage Sophia:
Vince Corso ist, wie wir eben gehört haben, ein komplexer Mensch, welcher teilweise sehr einsam ist und Schwierigkeiten hat, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Doch wer ist für sie persönlich dieser Mensch.
Glauben Sie wie Vince Corso an die Heilkraft der Literatur?
Antwort F. Stassi:
Ich bin davon überzeugt, dass wir alle in Therapie sind, vor allem die Schriftsteller. Es ist nicht normal, so viel Zeit mit Schreiben zu verbringen. Ich schreibe, wenn ich im Zug bin. Aber es ist nicht einmal normal zu lesen. Die Lektüre ist eine Form der Neurose. Man liest, weil man mit der Welt nicht zufrieden ist. Der Schriftsteller ist ein Einzelgänger. Er schläft nicht, er ist ein Visionär. Aber die Literatur kann wirklich heilen. Sie heilt, weil sie auf der Seite der Krankheit, fast schon auf der Seite des Todes, liegt, nicht auf der Seite der Gesundheit. Die Geschichte der Literatur fasst das negative Wesen des Menschen zusammen. Das ist eine Therapie. In Gefängnissen beispielsweise, in denen es eine Bibliothek gibt, gibt es ein Drittel weniger Selbstmorde. Die Bücher versuchen, uns von unserer negativen Realität zu befreien. Die Frage ist: „Warum?“ Im Italienischen gibt es zum einen die Stärke und auf der anderen Seite den Trost. Die Literatur soll dem Menschen jedoch keinen Trost schenken, aber sie kann durchaus unterstützen. Wenn du weißt, dass deine Situation schon jemand anderes durchlebt hat, gibt dir das Kraft und Motivation, weiterzumachen. Wir haben mittlerweile vergessen, wie wichtig das ist. Ich selbst schreibe Literatur, die den Menschen stärkt und nach vorne bringt.
Zweite Frage Procopan:
Der Roman wird im Untertitel als Detektivroman bezeichnet. Dabei ist der Protagonist, Vince Corso nur durch Zufall ein Detektiv. Im Hauptberuf war er Vertretungslehrer für italienische Literatur, zur Zeit der Handlung ist er ein Bibliotherapeut, der bemüht ist, seinen Patienten Lektüreempfehlungen zu machen, die ihnen in ihrer krisenhaften Lebenssituation möglicherweise helfen würden. Nur zufällig schlüpft er in die Rolle eines Detektivs, denn der Auftrag , den er von Giovanna Baldini, einer wohlhabenden Frau um die 60 Jahren erhält, besteht nicht darin, eine Buchempfehlung zu machen, sondern ausgehend von (Textfragmenten genauer von Textfetzen) ein Buch zu finden, das ihrem wesentlich älteren, an Alzheimer erkrankten Bruder dazu verhelfen soll, sich an sein früheres Leben als begeisterter Buchliebhaber und Leser von Büchern aus erstaunlich vielen Kulturen zu erinnern und somit den Verlauf der Krankheit zu verlangsamen. Das Besondere an diesem Buch besteht darin, dass es sich in der privaten Bibliothek des Bruders, des alten Baldini befindet. Die einzigen Hinweise, über die Vince Corso verfügt sind einige Sätze, an die sich der alte Baldini noch erinnern kann.
Zudem heißt der Roman „Die Seele aller Zufälle“, womit Sie auf die Quintessenz des Zufalls hinweisen und weniger auf die akribisch logisch-analytische Arbeitsweise eines Detektivs.
Intendieren Sie mit den zwei sich widersprechenden Überschriften etwa die Infragestellung des Genres, ein Spiel mit der bewährten Gattung des Detektivromans, eine Art postmodere Dekonstruktion des Paradigmas?
Antwort F. Stassi:
In Italien nennen wir es den Krimi. Er gehört zur Gesellschaft, da die Inspiration der Ordnung entstammt. Der Krimi will darüber hinausgehen. Einige Leser möchten einen Suizid heranführen, doch danach muss die Ordnung wieder perfekt sein. Es wird also ein Kommissar herangerufen, der alles wieder in Ordnung bringen soll. Es handelt sich um eine relative Transkription. Ich hingegen wollte einen Krimi der Unordnung schreiben, der teilweise einen polizeilichen Hintergrund besitzt. Es werden nur Hypothesen herangezogen, es gibt keine Lösung. Es gibt einen Unterschied zwischen einem Geheimnis und einem Enigma. Ein Enigma bedeutet, dass man bei einem Suizid den Täter ermitteln muss. Doch das Geheimnis ist viel interessanter. Das Geheimnis, zum Beispiel, hinter einem Suizid. Was sind die Gründe, warum sich jemand umbringt? Oder sich zu fragen, warum es uns schlecht geht. Vince Corso recherchiert über die Geheimnisse, nicht über die Enigmen. Aber das Geheimnis hat mehrere Lösungen. Ich möchte, dass der Leser der Detektiv ist. Das ist meine Überzeugung. Immer wenn wir ein Buch lesen, gehen wir auf die Suche nach der Recherche – auch eine Recherche über uns selbst. Aber wir haben keine Antworten. Wir sind nur in der Lage, die Frage besser zu stellen. Und genau das macht Vince Corso. Er hilft dem Leser, die Fragen besser zu formulieren. Warum sind wir alleine? Warum geht es uns schlecht?
Dritte Frage Procopan – Die Lektüre des Romans als Therapie:
Parallel zu diesem detektivischen Hauptstrang verlaufen diverse Therapieseitzungen mit Patienten, die mal überzeugt, mal mit Hohn auf die Buchempfehlungen von Vince Corso reagieren. Da ist betagte Angela, die gerne die nicht mehr zu korrigierenden Fehler ihres Lebens vergessen würde. Sie erinnert sich zudem an so viele Details in ihrem Leben, die sie nicht vergessen kann, dass sie darunter regelrecht leidet. Die Empfehlung Corsos, die Erzählung von J. L. Borges über den jungen Funes zu lesen, der nichts vergessen kann, scheint sie annehmen zu können und verlässt zufrieden die Praxis des Protagonisten, obwohl das Schicksal des fiktiven Funes ein sehr trauriges ist. Weniger zufrieden mit den Therapiestrategie Corsos ist die sprunghafte Teresa. Vince Corso geht von der falschen Annahme, Theresa würde gerne ihrer außerordentlichen Unstetigkeit ein Ende setzten und empfiehlt ihr Lektüre der Erzählung von Kafka „Die Verwandlung“, um ihr vorzuführen, auf welche Weise die Bücher mit uns altern, bzw. wie uns in unterschiedlichen Lebensphasen verschiedene Aspekte des einen und desselben Textes ansprechen. Besonders unangenehm ist die dominante, besitzergreifende und sarkastische Elda Torre, selber Verfasserin von über 30 mittelmäßige Romane, die statt einer bibliotherapeutischen Empfehlung Vince Corso dazu animieren möchte, ihren letzten Roman zu rezensieren. Dann ist noch Sophia, die sich wünscht, singen zu können und dafür einen literarischen Text sucht, die ihr bei der richtigen Intonation der Wörter und der eigenen Sprache verhelfen soll. Vince Corso empfiehlt ihr die Gedichte von Giuseppe Ungaretti, ohne zu ahnen, dass Sophia eine Promotion über diesen Dichter verfasst. Wunderschön in diesem Kapitel sind die Ausführungen über die Verbindung zwischen Musik und Literatur, bzw. über die Erkenntnis, dass jedes Buch ein Resonanzkörper ist. Vor allem ist dieses Kapitel auch eine Hommage an die Lyrik von Giuseppe Ungaretti, über dessen Leben wir manches erfahren und uns an einige Verse seiner berühmte Gedichte aus dem Zyklus „L´allegria“ erinnern können.
Während der Lektüre dieser Kapitel habe ich mir oft die Frage gestellt, ob die Unterhaltung zwischen Vince Corso und seinen Patienten nicht vielleicht eine Gelegenheit darstellt, uns als Leser Bücher zu empfehlen, so dass die Lektüre des Romans eine Art Therapie ist und Sie als Bibliotherapeut fungieren?
Antwort F. Stassi:
Zunächst möchte ich sagen, dass viele dieser weiblichen Persönlichkeiten real sind. Ich habe beispielsweise eine Schwester, die sich an alles erinnern kann. Wir nennen sie „la memoriosa“. Die Erinnerung und auch der Verlust der Erinnerung sind zwei zentrale Themen des Romans. Ungaretti ist der erste Poet, den ich gelesen und geliebt habe. Und es stimmt, dass diese Person fiktiv ist, damit ich frei über die Bücher schreiben kann, die ich liebe. Das Ziel war es vor allem, dass ich durch jemanden, der mit Büchern therapiert, frei über meine Seele hinaus schreiben kann.
Nachdem das Buch in Italien erschien, gab es eine sehr kuriose Situation bei einer Lesung. Auf Sardinien sollte ich die Lesung in einem Zeltlager halten, das aussah wie ein Krankenlager. Als ich ankam, gaben sie mir einen Doktorkittel. Die Menschen sahen mich mit einem Respekt an, den ich in meinem Leben noch nie erlebt hatte. Sie gaben mir ein Stethoskop in Form eines Buches und ein Rezeptbuch, wie es Ärzte besitzen. Ich wollte eigentlich nur mein Buch präsentieren, doch stattdessen sollte ich mich hinsetzen und den Menschen Bücher verschreiben. Ich machte das von 4 Uhr nachmittags bis 10 Uhr nachts. Die Schlange war unendlich. Die Menschen setzten sich hin und erzählten mir ihr ganzes Leben. Es war eine Art Triage, und es ging um die Probleme der Familie, Arbeit, Liebe, Gesundheit… Ich hörte mir alles an und gab den Menschen dann meine Empfehlung. Eine Woche später riefen mich viele Buchhändler aus Sardinien an und fragten mich, wie ich es geschafft hatte, Bücher zu verkaufen, die seit 10 Jahren nicht mehr gekauft wurden.
Es mag eine sehr amüsante Situation erscheinen, aber eigentlich ist es eine sehr ernsthafte Angelegenheit. Manche sind sogar bis nach San Diego gelaufen. Man muss also aufpassen, was man den Menschen empfiehlt. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Literatur therapeutisch wirken kann. Sie gibt uns die Chance, über unser Nicht-Wohlbefinden sprechen zu können.
Überleitung (Procopan):
Eine besondere Rolle spielt die zufällige Begegnung Corsos mit Feng, einer Dozentin für chinesische Sprache an der Univ. Sapienta in Rom. Gemeinsam mit Vince teilt sie das Gefühl, in der Welt fremd zu sein, aber während Vinces Fremdeln mit der Welt fast einer Verlorenheit gleicht, ist Feng gerne in einer von ihr gewählten Umgebung. Den Weg nach Italien fand sie über die italienische Literatur, die sie besonders mag. Lassen Sie uns in den Kapitel hineinhören, in dem Feng und Vince Corso sich über die chinesische Sprache und den Turm zu Babel unterhalten.
Erster Leseblock (Feng und Corso im Restaurant – Kapitel N – Gespräch über die chinesische Sprache – Lektüre auf Italienisch und dann Deutsch)
Zweite Frage Sophia:
In Ihrem Roman werden viele verschiedene, auch aktuelle Themen angesprochen wie beispielsweise der Gedächtnisverlust, die Bedeutsamkeit der Liebe, die Heilkraft der Literatur… Doch für mich war das Hauptthema der Zufall und wie er das Leben von Menschen, hauptsächlich des Protagonisten Vince Corso, beeinflusst und verändert.
Meine Frage wäre nun, welche Rolle spielt der Zufall in ihrem Roman und inwiefern beeinflusst er die Existenz und Identität des Menschen?
Antwort F. Stassi:
Ich werde mit einer Buchempfehlung beginnen: „La musica del caso“ von Paul Auster. Unser Leben ist vom Zufall umgeben. Wo wir geboren sind, wann wir geboren sind, welche Sprache wir sprechen… Die Zufälle sind die ganz kleinen Zeichen, die uns dabei unterstützen, den Sinn unseres Lebens zu verstehen und ihn uns vorstellen zu können. Es ist das Ziel der Literatur. Ein Gott hat uns die allgemeine Sprache weggenommen, mit dem Ziel, dass wir uns nicht mehr verständigen können. Ukraine – Russland, Israel – Palästina, es gibt keinen Weg der Kommunikation, es gibt keine Einheit der Sprache. Für mich bedeutet die Literatur, eine Sprache zu entwickeln, die alle verstehen können, denn die Sprache ist fundamental. Man wird nicht an einem Ort geboren, man wird in eine Sprache geboren. Wir sind die Sprache, die wir sprechen. Aber die Literatur, dank der Übersetzerinnen und Übersetzer, ist ein internationales Phänomen. Die Literatur hat den Nationalismus verdrängt.
Vierte Frage Procopan:
Erinnern und Vergessen sind zwei weitere zentrale Motive des Romans: Der alte Baldini ist Zeit seines Lebens gereist, hat über 20 Sprachen gelernt und exotische Bücher von überall auf der Welt gesammelt und sie in eine Bibliothek untergebracht, die den Anschein erwecken sollte, sie sei das Gedächtnis zumindest eines Teils der Welt und der menschlichen Geschichte. Der Verlust des Gedächtnisses bedeutet für Baldini den Verlust seiner Identität, eine Situation , die er teilweise mit Vince Corso teilt: sie sind beide, auf unterschiedliche Art und Weise verlorenen. Mit der Gründung der Bibliothek hat Baldini ein Denkmal des menschlichen Gedächtnisses geschaffen. Indem Vince Corso das Buch sucht, an dem sich Baldini nur vage erinnert, indem er einzelne Sätze reproduziert, scheinen sie sich auf eine besondere Art gegenseitig zu unterstützen.
Wie würden sie die Beziehung zwischen Baldini und Corso beschreiben? .
Antwort F. Stassi:
Das ist das Herz des Buches. Baldini hat versucht, die Memoiren der Welt zu konservieren. Aber diese Erinnerungen sind explodiert, und Vince Corso versucht, dieses Rätsel wieder zu lösen. Ich glaube, dass der Gedächtnisverlust die größte Tragödie des Menschen ist. Es gibt beispielsweise keine Zeitzeugen mehr aus dem letzten Weltkrieg. Keiner von ihnen lebt mehr. Und man spricht immer wieder über Kriege. Die Krankheit Alzheimer handelt eigentlich vom zeitlichen Sprachverlust. Wenn wir die Erinnerungen verlieren, verlieren wir auch die Sprache.
Die erste Frage, die ich mir gestellt habe, als ich dieses Buch schrieb, war: Wenn ich alle meine Erinnerungen verlieren würde und mich nur noch an eine erinnern dürfte, welche wäre das? Das war die Quelle, aus der das Buch entsprungen ist. Innerhalb weniger Jahre schrieb ich zwei Bücher, die intensiv das Thema Alzheimer behandelten. Einmal dieses und dann noch die Fabel von Pinocchio. Während der Coronakrise habe ich mir vor Augen geführt, dass Pinocchio gar nicht existiert. Aber eigentlich ist es der Meister Geppetto, der an Alzheimer erkrankt ist und mit einem Stück Holz spricht. Wir müssen die Erinnerungen beibehalten. Vor 2000 Jahren in China wurden Bücher verbrannt und die Personen vergraben, die sie geschrieben haben. Diejenigen, die die Erinnerungen nutzen, um die Gegenwart zu kritisieren, wurden in dem Moment justiziert, zusammen mit der Familie. Die Erinnerung ist dazu da, die Gegenwart zu kritisieren.
Fünfte Frage Procopan:
Während der Lektüre des dritten Teils des Romans, der nicht nur die Beschreibung dieser gewaltigen Bibliothek enthält, sondern auch die allmähliche Lösung des Geheimnisses dieses Detektivromans, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, der „Bibliothek zu Babel“, einer Erzählung des argentinischen Schriftstellers J. L. Borges, auf den wir bereits zu sprechen kamen, in einer neuen, sehr überraschenden Version zu begegnen.
Welche Bedeutung hat diese Nähe zu Borges, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu dem argentinischen Schriftsteller, der wie Sie Bibliothekar war, beschreiben? .
Antwort F. Stassi:
Ich bin Borges sehr nah, das lässt sich auch mit persönlichen Gründen erklären. Meine Großmutter wurde in Buenos Aires geboren, mein Großvater in Tunesien. Wir waren eine sehr internationale Familie. Die einzige Frage, die man sich stellen muss, wenn man etwas liest, ist: Wie klingt es? Nicht, wovon es handelt oder was die Lehre daraus ist. Das Wichtigste ist der Klang eines Buches. Bücher sind eingehüllt in eine Aura der Musik. Die Schrift ist entweder Musik oder sie ist es nicht. Mein Ziel ist es, in einem Moment der Schwäche zu schreiben. Die Literatur ist immer aus zweiter Hand. Der Disput entsteht dort. Jeder Leser liest ein anderes Buch. Die Bibliotheken leben auf. Sie sind wie ein Hafen. Wenn man nachts in eine Bibliothek geht, dann lebt sie auf. Aber was eine Bibliothek oder ein Buch wirklich ist, hat mir ein Kind beigebracht.
Einmal wurde ich nach „Lampedusa“ in Sizilien eingeladen, um in einer Kinderbibliothek zu arbeiten. In Zürich gibt es einen Verlag, der es ermöglicht, Bibliotheken an Orten zu eröffnen, an denen es noch keine gibt. Und in Lampedusa gibt es keine. Ich habe die Kinder also begrüßt und gefragt: „Was ist ein Buch?“ Ein Kind hat mir daraufhin gesagt: „Ein Buch ist wie eine Teekanne.“ Die Eltern haben die Flüchtlinge zu sich aufgenommen. Ein anderes Kind sagte: „Ein Buch ist eine Insel.“ Denn wenn man es von der Seite ansieht, kann man die Felsen sehen. Und es ist wirklich wahr, ein Buch ist eine Insel. Da war auch ein ganz kleines Kind, fünf Jahre alt, das noch nicht lesen konnte, und es sagte mir, dass es nicht wüsste, was ein Buch sei, aber man würde es wie eine Umarmung öffnen. Und ich denke, dass, wenn wir lesen, wir genau diese Geste machen. Wir öffnen uns selbst. Das ist für mich der Sinn einer Bibliothek.
Zweiter Leseblock (Die Bibliothek – Kapitel R oder S)
Diskussionsrunde
Dritter Leseblock ( Sophia/Ungaretti – Kapitel W)